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Für Gottes- statt für Tariflohn – Ein Buchtipp nicht nur für alle Ehrenamtler in Flensburg
Gisela Notz enttarnt „Freiwilligendienste“ und „Ehrenämter“
Im 19. Jahrhundert fühlten sich wohlhabende Damen zu karikativem Tun für die Ärmsten berufen und halfen für Gotteslohn in der Suppenküche. Heutzutage beköstigen Ehrenamtler/innen an bundesweit mehr als 900 „Tafeln“ Arme, Arbeits- und Obdachlose und nennen dieses Almosen „bürgerschaftliches Engagement“. Hier wie dort gab und gibt es ein „Oben“ und „Unten“, kein politisches Aufbegehren und Hinterfragen gesellschaftlicher Strukturen, kein Reicher wird ärmer, kein Armer reicher, und der Staat freut sich über kostenlose Versorgung, für die eigentlich er zuständig wäre.
In der Altenpflege werden in dramatischem Umfang tariflich bezahlte Stellen eingespart, mit einem Taschengeld abgespeiste „Freiwillige“ des Bundesfreiwilligendienstes ersetzen sie. Die Soziologin Gisela Notz gießt mit ihrem Essay über Gratisarbeit Öl ins Feuer der zahllosen Kampagnen für mehr „bürgerschaftliches Engagement“. Sie urteilt: „Staat und Wohlfahrtsverbände suchen nach Lösungen, um Kosten zu sparen, vor allem Personalkosten. Viele Menschen, vor allem Frauen, nehmen den Freiwilligendienst‘ an, weil ihnen nichts anderes übrigbleibt. Es wurde ein neues Arbeitsmarktsegment geschaffen, das weder an Mindestlöhne noch an Tarifverhandlungen noch an Existenzsicherung gebunden ist. Es besteht die Gefahr, dass die soziale Grundversorgung wesentlich durch eine zu Niedrigstlöhnen beschäftigte Randbelegschaft aus ‚Freiwilligen‘ unterstützt wird, die nun nicht mehr unbezahlbar, sondern ganz wenig Wert ist.“
Die Feministin Notz weist in einem historischen Überblick zudem nach, dass die staatliche Propaganda für „Ehrenamt“, „freiwilliges Engagement“, „zivilgesellschaftliches Engagement“ oder „Volonteering“ jeweils in Zeiten von Krisen stark anschwillt – sei es nach Kriegen, sei es in der Bundesrepublik seit dem Abbau des Sozialstaates. Wo sich der Wohlfahrtsstaat aus der Verantwortung spart, soll „brachliegendes Potenzial“ von Engagementwilligen ausgeschöpft werden – die lieber einer Erwerbsarbeit nachgingen.
Im Begriff „bürgerschaftliches Engagement“ erscheint „der Bürger“ geschlechtsneutral, während Gratisarbeit die Rollenverteilung des „normalen“ Lebens zementiert: Männer besetzen ehrenamtlich Vereins- und Verbandsvorstände, Frauen organisieren das kirchliche Seniorenzentrum. Sie sollen für die „Ehre“ tun, was sie ohnehin „freiwillig“ tun: pflegen, sorgen, erziehen. Wissenschaftlerin Notz teilt, verständlich und überzeugend argumentierend, auch nicht den Jubel über Engagement mit „visionärem Glanz“: die meist geringfügig mit Schattenlöhnen bezahlte Arbeit in Non-Profit-Organisationen und der „sozialen Ökonomie“.
Gisela Notz‘ kluges Buch ist wichtig, weil es die Begeisterung über „freiwilliges“ Engagement politisch einordnet.
Ulla Lessmann in ver.di News Nr. 5 /2013
„FREIWILLIGENDIENSTE“ FÜR ALLE, Gisela Notz: Von der ehrenamtlichen Tätigkeit zur Prekarisierung der „freiwilligen“ Arbeit, AG Spak-Bücher, Neu-Ulm 2012, 122 Seiten, 10 Euro, ISBN 978-3940865281
Dieser Beitrag wurde uns dankenswerterweise von der Autorin Ulla Lessmann und der Redaktion von ver.di News zur Verfügung gestellt. Siehe ver.di News Nr. 5 vom 30.3.2013
Mehr auch auf: www.verdi-news.de – www.verdi-publik.de und www.verdi.de
Zwischenruf 33 auf Akopol
„Pannendienst an der Gesellschaft“
Eine kritische Betrachtung der „Tafeln“ u. a.
Am 10. Dezember schilderte das Flensburger Tageblatt in einem Beitrag „Endlich raus aus der Schimmelwohnung“, wie der „Bürgerfonds“ einer alleinstehenden Mutter mit drei Kindern hilft, Möbel für ihre neue Wohnung zu bekommen, weil sowohl Kleidung wie Möbel durch den desolaten Zustand der bisherigen Wohnung total verschimmelt waren.
In der Adventszeit ist die Spendenbereitschaft besonders groß. Viele Organisationen, Verbände, Clubs u. a. sammeln Spenden, um bei Hilfsbedürftigen die größte Not abzumildern. Das angeführte Beispiel steht für viele andere und macht die Dimension der Armut in vielen Familien sichtbar. Der aktuelle Sozialatlas für Flensburg veranschaulicht das Ausmaß der Verarmung des „Prekariats“ in erschreckender Weise. Demnach sind 22,5 % der Flensburger Bürger auf Transferleistungen angewiesen und konnten an dem wirtschaftlichen Aufschwung nicht teilhaben. Auf diesem Hintergrund sind die ständige Verharmlosung dieser Tatsachen und die andauernde Beteuerung der Regierung, dass es dem Land gut geht, für mich empörend. Durch Schönreden oder Wegdiskutieren werden diese Probleme nicht gelöst.
Die erschreckenden Daten des Sozialatlas dürften verdeutlichen, dass auch noch so viele und gut gemeinte Spenden nur einen Tropfen auf den heißen Stein sein können und das Problem der Unterversorgung an sich nicht lösen können. Die Adventszeit dauert vier Wochen, die Not ist jedoch ganzjährig! Und sie nimmt immer noch zu.
Es ist zu hoffen, dass alle diejenigen, die viele Gelder eingesammelt haben und ihre Schecks an die gemeinnützigen Verbände übergeben haben, es damit nicht bewenden lassen. Vielmehr wäre es erforderlich, sich bewusst zu machen, dass nur eine Politik, die Begriffe wie „Solidarität und Gerechtigkeit“ Ernst nimmt, die Gesamtsituation ändern kann. Deshalb wäre es so wichtig, wenn alle Helfer sich dessen bewusst machen und diese Forderung an ihre gewählten Volksvertreter weitergeben.
Unter der Rubrik „Glaubenssachen“ brachte NDR-Kultur am Sonntag, den 13. November 2011, einen Beitrag von Hans-Jürgen Benedict: „Pannendienst an der Gesellschaft? Tafeln und Suppenküchen in der Kritik“. Er beschreibt dort wie in uneigennütziger, ehrenamtlicher Arbeit der „Tafeln“, Kleiderkammern u. a. die schlimmste Not gelindert wird, sieht jedoch die ständige Zunahme der Bedürftigkeit mit Besorgnis.
Hier ein Auszug der kritischen Betrachtung des Gesamtproblems:
„Wie es zugeht in den vielen Suppenküchen, das ist unter sozialrechtlichen Gesichtspunkten nicht mehr akzeptabel. Die alltägliche Ausgrenzung Hunderttausender in einer reichen Gesellschaft ist ein Skandal, der durch Armutsprojekte erträglich gemacht wird. Angesichts des Umbaus sozialstaatlicher Leistungen und Leitbilder stellt sich die Frage, inwieweit Armutsprojekte gegen ihre erklärte Absicht instrumentalisiert werden, um staatlich organisierten Lastenausgleich durch private Wohltätigkeit weitgehend zu ersetzen.
Tafeln sind einerseits notwendig, weil sie die unzureichend gewordene staatliche Grundsicherung ergänzen. Sie sind andererseits fragwürdig, weil sie durch ihren Dienst zu einer Verfestigung von Armut beitragen. Tafeln sind nach Aussage des Tafel-Forschers Stefan Selke ein „Pannendienst an der Gesellschaft“, der gelbe ADAC-Engel für Arme auf der Versorgungsebene. Sie lindern Not, ohne ihre Ursachen zu bekämpfen. Tafeln können zwar zunehmende Spaltungsprozesse regional und lokal ruhig stellen, sie sind aber keine dauerhafte Lösung für das Problem gesellschaftlicher Spaltung.
Der vom Diakonischen Werk 2010 veröffentlichte Text mit dem Titel „Es sollte überhaupt kein Armer unter euch sein“ nennt das ein „Dilemma von Armutslinderung und Armutsverfestigung“. Tafeln dürften „nicht zum Bestandteil einer staatlichen Strategie zur Überwindung von Armut werden.“
Also im Klartext geredet: Je mehr Tafeln es gibt, umso größer ist das Versagen des Staates. Gerade Kirche und Diakonie mit ihrer Geschichte der Mildtätigkeit müssen aufpassen, dass sie diesen Prozess nicht unfreiwillig unterstützen. Sie würden mit ihrer Versorgungs- und Tafelhilfe in jene Unterstützungspolitik zurückfallen, die staatliche und kirchliche Entwicklungspolitik auf internationaler Ebene längst aufgegeben haben.
Denn was geschieht hier? Unzureichende Hartz IV-Sätze bringen einen Teil der Armen dazu, ihre Scham zu überwinden und zur Tafel zu gehen. Die Tafelnutzer müssen dabei nehmen, was ihnen die Überflussgesellschaft übrig gelassen hat. Sicher tragen Tafeln zur Entsorgung des Lebensmittelüberschusses von Supermärkten und Hotels bei, sie ersparen ihnen aber auch teure Entsorgungskosten. Und sie vermitteln den großen Handelsunternehmen zudem einen Imagegewinn, da sie ja etwas Gutes für die Armen tun. […]
Die vielen freiwilligen Helfer, die bei den Tafeln mitarbeiten, es sind fast 50.000, könnten sich darüber klar werden, was sie mit ihrer an sich lobenswerten Tätigkeit tun. Bedenklich genug: Eine Befragung der Universität Furtwangen ergab, dass die meisten ehrenamtlichen Mitarbeiter der Tafeln keine oder fast keine Vorstellung davon haben, wie das Armutsproblem politisch zu lösen wäre. Für sie ist das „Sofort helfen“ wichtig, nicht die politische Perspektive. „Handeln nicht Reden“ ist ihr Motto. Anders sei das bei den Hauptamtlichen, weiß Armutsforscher Selke; sie machten sich Gedanken über eine sogenannte Exit-Strategie und politische Anwaltschaft. […]
Viele Armutsprojekte feierten 2010 ihr fünfzehnjähriges Jubiläum, obwohl es eigentlich keinen Grund zum Feiern gibt. Nötig ist eine Politik gegen Armut und Ausgrenzung, die vom Staat koordiniert wird; die Diakonie kann dafür Impulse setzen durch beispielhafte Pilotprojekte. Sie kann und darf dem Staat aber nicht die Armutsbekämpfung abnehmen, indem sie die physiologischen Grundbedürfnisse der Armen auf dem Niveau von Suppenküchen sichert oder ihre minimale kulturelle Beteiligung stärkt.
Das ist keine Option für die Armen im biblischen und im sozialstaatlichen Sinn, sondern eher die überholte Armutsorientierung als Barmherzigkeit. Schafft Recht den Armen, lautet das biblische Motto. In der Sprache der Samariter-Erzählung: Die Straße von Jerusalem nach Jericho so gestalten, dass es nicht zu Überfällen kommt. Es geht darum, den Armen so zu helfen, dass sie nicht mehr zur Tafel oder zur Kirchenküche gehen müssen!“
Das sind deutliche Worte. Deshalb noch einmal meine Bitte an die Advent-Helfer und -Sammler von Spenden, den Volksvertretern deutlich zu machen, dass wir eine politische Lösung brauchen, um eine weitere Spaltung der Gesellschaft zu verhindern.
Damit wünsche ich allen Akopol-Leserinnen und -Lesern ein gutes und friedliches Neues Jahr!
Beate Liebers